1. Jesus wird zum Tod verurteilt

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Adoramus te, Christe, et benedicimus tibi -
quia per sanctam crucem tuam redemisti mundum.


Jeder hat ja so seine Erwartungen.

Als Jesus in Jerusalem einzog, war der Jubel groß. Offenbar wurden viele Erwartungen an diesen Rabbi geknüpft, diesen Wanderprediger aus Galiläa, von dem man sich viel zu erzählen wußte. Heilt Kranke. Treibt Dämonen aus. Stillt Stürme. Handelt machtvoll. Kann die Römer vertreiben. Und Israel zu alter Größe führen. Hosianna dem Sohn Davids! Der Befreier. Doch Jesus enttäuschte die Erwartungen. Sein Reich sei nicht von dieser Welt, wird er bald Pilatus erwidern.

Wenige Tage später ... Stimmungsumschwung: Auf so einen König können wir verzichten. Dann lieber Barrabas, den Berufsrevoluzzer. Da weiß man, wen man vor sich hat. Dieser andere Hochstapler hält uns sowieso nur zum Narren. Sohn Davids? Wir haben uns zum Affen gemacht, Kleider ausgebreitet, Palmwedel geschwungen, für was? Kreuzige ihn! 

Jesus steht vor Pilatus. Jesus weiß, was kommen wird. Der Kelch geht nicht an ihm vorrüber. Die Menge brüllt, der Richter ist wankelmütig, die Priesterschaft setzt dem Römer zu. Jesus weiß, was kommen wird. Verraten ist er bereits. Verleugnet und verleumdet. Die römischen Soldaten machen sich ihren blutigen Spaß aus dem "Judenkönig". Die Hiebe sind erst der Vorgeschmack auf die Nägel. Die Geißel kratzt auf der Haut, die Nägel aber werden durch das Fleisch getrieben. Jesus weiß, was kommen wird. Der stechende Weg. Das Kreuz. Seine menschliche Natur ist keines Leidens enthoben, empfindet Beklemmung vor diesem Tod. Wie fühlt man sich da?

Erlöst und getauft hin oder her - mit der Wunde des Bösen stehen wir noch immer mit einem Bein in der Menge. Kreuzige ihn! Jede Sünde, der wir erliegen, so oft und Tag um Tag, ist eine Entscheidung gegen das Angebot des Herrn. Zeugt davon, daß wir etwas anderes erwarten, daß uns etwas anderes lieber wäre, als Jesus uns anbietet. Wir würden natürlich nie in den Ruf "Kreuzige ihn" einstimmen, aber faktisch bringen wir den Kelch zum Überlaufen - jenen Kelch, den hinwegzunehmen Jesus seinen Vater bat. Wie müßig, wie überflüßig ist daher die Frage, wer Schuld trägt am Tod Jesu, die Juden oder die Römer? "Ach, meine Sünden haben Dich geschlagen ..."

Jeder hat ja so seine Erwartungen. Die Stunde eines Prozesses ist immer auch eine Stunde der Rechenschaft. Jeder macht sich sein Bild von der Lage, auch der Angeklagte. Wäre Jesus nur Mensch wie wir, in allem uns gleich ohne Ausnahme, so wollte ich nicht wissen, was er sich von den Menschen in diesem Augenblick noch erwartet  ... von uns ... von mir ... von dir.

Herr Jesus Christus -

angeklagt stehst Du vor dem Richter.
Schuldlos nimmst Du 
ein grausames Urteil auf Dich
um meinetwegen,
um meiner Erlösung willen und
für das Heil dieser Welt.
Du gehst einen harten Weg,
den Weg des Kreuzes.
Er ist Realität, schmerzverzerrt.
Du erträgst das - aus unermeßlicher Liebe.
Um dieser Liebe willen
bitte ich dich:
Wenn ich angeklagt vor Dich
als meinen Richter trete
mit meiner Schuld, 
so laß mich trotz allem
in der Erwartung dieser Liebe stehen, 
auch wenn ich
Deine Erwartungen
immer wieder
enttäuscht habe.

Amen.